Der Apfel

Es war einmal ein Apfel, der hatte es wirklich gut. Schon der Baum, an dem er wuchs, war gewaltig. Er beeindruckte selbst die gleichgültigsten Leute, so dass sie stehen blieben und ihn bewunderten.

Der Baum war mindestens so hoch wie ein Fabrikschornstein, aber natürlich viel breiter. Auch war er derart schwer von Früchten, dass man die Äste mit Stangen abstützen musste, damit sie unter der köstlichen Last nicht brachen.

Dieser Baum war so prall von Leben, dass es in seiner Nähe nie schlechtes Wetter gab. Wenn es neblig war oder Gewitterwolken den Himmel verdunkelten, begann der Baum warm und freundlich zu leuchten, als hätte er in guten Zeiten das Sonnenlicht gespeichert.

An diesem besonderen Baum wuchs der Apfel, von dem diese Geschichte erzählt. Er hatte unter seinen vielen Brüdern auch einen besonderen Platz. Zwar wuchs er nicht direkt an der Spitze, aber doch auf einem der obersten Äste, wohin die Sonne täglich am längsten ihre wärmenden Strahlen sandte und wo er geschützt war durch das Laub benachbarter Äste.

Dieser Apfel war bestimmt der schönste auf dem Baum. Er war groß, glatt, völlig rund und blinkte rotgolden durch das üppige Laub.

Das Seltsame aber war, dass niemand ihm seine Sonderstellung neidete. Die anderen Äpfel achteten ihn ganz selbstverständlich als den Besten und Schönsten von ihnen. Die Äste und Blätter des Baumes taten alles Erdenkliche, um diesen Apfel vor Wind und Hagel und Schmutz zu schützen. Selbst, wenn ein unerfahrener und frecher junger Spatz sich von der Pracht des Apfels verlocken ließ und vielleicht ein kleines bisschen an seiner rotgoldenen Schale picken wollte, stürzten sich die erfahrenen Spatzen empört auf ihn und er bekam eines auf den Schnabel, dass er nie wieder derartige Gedanken hegte.

Kurzum – diesem Apfel ging es beinahe so gut wie im Märchenwald.

Aber wie das nun einmal ist – irgendwann begann sich der Apfel unwohl zu fühlen. Er wuchs und strahlte und wurde immer prächtiger und alle Wesen um ihn herum sorgten sich freundlich um ihn, und dennoch wurde er immer verdrießlicher.

Vor allem begann ihn zu stören, dass er derart abhängig war. Mit einem dicken, kräftigen Stiel, ebenso gut gewachsen wie er selbst, hing der Apfel an einem Zweig, der wiederum an einem der Äste hing und der war natürlich am Stamm befestigt.

Dass die Vögel, die in respektvollem Abstand auf den benachbarten Ästen saßen, um ihn zu bewundern, sich völlig frei und ungehindert bewegen konnten, daran hatte sich der Apfel mittlerweile gewöhnt. Aber was er überhaupt nicht verstand, ja, was ihn zutiefst verärgerte, war eine andere Beobachtung, die er immer häufiger machen musste. Ausgerechnet die schlechtesten, unansehnlichsten und faulsten seiner Brüder, die oftmals fast unsichtbar auf den untersten Ästen wuchsen, erlangten als erste die Freiheit, nach der er sich so heftig sehnte. Sie fielen einfach herab und wurden dafür ebenso wenig getadelt, wie sie zuvor etwa mit ständiger Bewunderung bedacht worden waren.

Es war dem Apfel nicht ganz klar, ob diese Früchtchen vom Baum abgestoßen wurden oder ob sie sich aus eigener Kraft losrissen. Er konnte jedoch deutlich erkennen, wie abenteuerlich abwechslungsreich das Leben war, das sie erwartete, nachdem sie sich unwiderruflich vom Baum getrennt hatten.

Zwei riesige struppige Kater spielten zum Beispiel mit ihnen. Ein kleines Mädchen dagegen bastelte aus den frühreifen Früchten allerliebste Püppchen, die von der ganzen Nachbarschaft bewundert wurden. Einer seiner Brüder war sogar in einer wunderschönen Vollmondnacht von einem mürrisch schnüffelnden Igel aufgespießt und durch Dutzende umliegender Gärten getragen worden, so dass er schon im jugendlichen Alter weit in der Welt herumgekommen war.

Der Apfel, der das alles mit ansehen musste, ohne sich mehr als wenige Millimeter von der Stelle rühren zu können, wurde immer trauriger und verärgerter. Da hing er nun und gedieh immer großartiger – und was hatte er davon? Man gewöhnte sich an sein vorbildliches Verhalten, das schließlich nicht mehr als Leistung, sondern als Selbstverständlichkeit angesehen wurde. Das wirklich aufregende und packende Leben spielte sich derweil an Orten ab, die er wohl nie erreichen würde.

Da fasste der Apfel schließlich eines Tages den Entschluss, sich loszureißen, koste es, was es wolle. Er spürte zwar undeutlich, dass es zu früh wäre, um der Aufgabe nachgehen zu können, für die der Baum ihn bestimmt hatte, aber das war ihm plötzlich gleichgültig. Er wollte endlich teilhaben an dem abenteuerlichen Geschehen zu ebener Erde.

Der Apfel benutzte eine List, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. An einem stürmischen Sonntagnachmittag überredete er einen der unerfahrenen Spatzen in seiner Nähe, es möge sich doch mit seinem Schnabel an seinem Stiel festhalten. Natürlich nützte das dem Spatzen nichts, aber der kräftige, sichere Stiel hatte nun mehrere Kerben und Risse. Der Apfel wiederholte dieses Spiel mehrfach, bis schließlich das Unglaubliche geschah. Durch einen besonders heftigen Windstoß, der die unteren, fruchtschweren Äste wie gequält ächzen und stöhnen ließ, wurde der Apfel vom Baum gerissen und flog in hohem Bogen in den Nachbargarten.

Dort musste der Apfel feststellen, dass er selbst bei seinem Sturz außerordentliches Glück gehabt hatte. Er lag auf einem besonders gut gepflegten Rasenstück, auf dem im Umkreis von etlichen Metern fast nur saftiges Grün wuchs, zwischen dem sich ein paar kümmerliche Unkrautstängel verloren.

Der Apfel war überglücklich. Er hatte es geschafft. Weit, weit weg, mindestens einen Steinwurf entfernt, stand der Baum. Dem Apfel schien es, als wären die meisten seiner Brüder, die er von hier unten sehen konnte, weniger von zunehmender Reife gelb als vielmehr vor Neid.

Der Apfel machte es sich bequem und richtete sich auf ein außerordentliches Schicksal ein. Es musste etwas geschehen, das weit über das hinausging, was die anderen Äpfel an dem langweiligen Prachtbaum erwartete. Jedermann sollte erkennen können, dass es sich bei ihm um den besonders gut gewachsenen Apfel handelte, auf den sich die Leute am Straßenrand gegenseitig aufmerksam gemacht hatten.

Aber schon nach wenigen Tagen stellte der Apfel mit wachsendem Erschrecken fest, dass seine Erwartungen sich zwar erfüllten, jedoch auf ganz andere Weise, als er je gedacht hatte.

Natürlich erkannte man ihn, und wer sich nicht bewusst war, dass es sich bei ihm um den prächtigen Apfel handelte, der noch am letzten Sonntag auf dem nahen Apfelbaum geprangt hatte, der erkannte doch auf den ersten Blick, dass hier eine außerordentliche Frucht im Grase lag.

Jedoch aus eben diesem Grunde schien niemand etwas mit ihm anfangen zu können. Schon in einer der nächsten Nächte wurde einer der sehnlichsten Träume des Apfels wahr. Schnüffelnd, schmatzend und grunzend trippelte der Igel heran.

Der Apfel war furchtbar aufgeregt, da nun die ersehnte lange Reise beginnen sollte. Aber nichts dergleichen geschah. Der Igel stockte kurz vor dem Apfel, hörte plötzlich zu schnüffeln auf und erstarrte für einige Augenblicke. Der Apfel konnte deutlich die Ursache dieser Erstarrung erkennen. Die schwarzen Knopfäuglein des Igels leuchteten vor Ehrfurcht und Bewunderung. Dann geschah das Unglaubliche, dass der Igel in großem Bogen um den Apfel herum trippelte und sich eilends davon machte. Dabei entschuldigte er sich mehrmals für seine Aufdringlichkeit, was bei derartigen Stacheltieren eher selten ist.

Allein, in dieser Art ging es weiter. Schon am nächsten Morgen erschien einer der beiden zerzausten Kater, die der Apfel aus seiner einstigen Höhe unzählige Male beobachtet hatte. Aber er benahm sich, als wäre er neuerdings ein gelehriger Schüler des Igels. Er schlich sich kunstgerecht an den Apfel heran und wollte ihn eben beschnuppern, was man an dem wohlgefälligen Schnurren deutlich merkte, da hielt er plötzlich inne, kratzte sich verdutzt hinterm linken Ohr und ließ ein ebenso verblüfftes wie verzagtes Mauzen hören. Gleich darauf aber spannte er seinen ganzen Körper, schrie ein gewaltiges „Miau!“ in den Himmel und setzte mit einem mächtigen Sprung über den Zaun. Dort berichtete er sogleich aufgeregt dem anderen Kater von seinem Fund. Der Apfel musste bedrückt mit anhören, wie die beiden struppigen, schwarzen Kämpfer sich auf der Stelle einig wurden, den Frieden des Nachbargartens fortan nicht mehr stören zu wollen.

Dieses Erlebnis machte den Apfel noch trauriger und verzagter. Mehrere Tage lag er nun schon auf dem gepflegten Rasenstück wie auf einem prächtigen Präsentierteller. Obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, bemerkte er, dass sich an der Stelle, auf der er nach seinem Sturz zu liegen gekommen war, kaum merklich die Schale zu verfärben begann. Der Apfel wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Schale würde brüchig und durchlässig werden und es würde sich in seinem Fruchtfleisch eine weiche Stelle bilden, die schließlich zu faulen begönne. Sein Schicksal schien besiegelt.

Aber noch hatte er die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Jeden Abend erschien das kleine Mädchen am Zaun, das aus den früh gefallenen Früchten des Baumes so wunderbare Püppchen anzufertigen wusste. Der Apfel erwartete immer wieder freudig ihr Erscheinen.

In der Tat sah sie am dritten Abend zufällig über den Gartenzaun und erblickte den Apfel zu einem Zeitpunkt, da ihn die Strahlen der untergehenden Sonne auf seinem Rasenstück besonders ansehnlich erscheinen ließen. Dem Mädchen erging es wie zuvor dem Igel und dem Kater. Sie erstarrte beinahe vor Überraschung. Dann aber hub sie wie folgt zu sprechen an: „Ich kenne Dich, Du wunderschöner Apfel, ja, ich kenne Dich! Noch am vorigen Sonntag habe ich Dich an unserem Baum hängen sehen, ganz weit oben, wo die Leute zuerst hinsehen, wenn sie den Baum bewundern. Ich glaube, ich könnte sogar noch die Stelle sagen, an der Du gehangen hast. Nun gut, jetzt liegst Du in Nachbars Garten. Ich weiß, was das für mich heißt! Vater hat mich heftig gescholten, als ich das letzte Mal die Himbeeren am Zaun pflückte, obwohl die meisten Ranken in unseren Garten hängen. Der Nachbar ist ein etwas wunderlicher Alter, weißt Du, und der Vater hat ja Recht, wenn er sagt, dass wir doch wegen einer Handvoll Früchte nicht den Frieden mit ihm gefährden wollen. Nun denn, lieber Apfel, auf Wiedersehen! Ich werde Dich jeden Abend bewundern kommen und mit Dir sprechen, wenn Du möchtest!“

Darauf lief das Mädchen davon, dem Apfel aber schwanden die Sinne. Mit letzter Kraft nahm er noch wahr, dass das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte – der Nachbar war in der Tat ein wenig wunderlich.

Wenige Augenblicke nämlich, nachdem das Mädchen ins Haus gelaufen war, erschien der Alte. Aus seinem Gemurmel hörte der Apfel noch heraus, dass der alte Mann den Aufruhr wohl wahrgenommen hatte, der durch das plötzliche Erscheinen einer derart außergewöhnlichen Frucht in seinem Garten hervorgerufen worden war. Dieser Aufruhr störte ihn zutiefst und deshalb hatte er einen Spaten mitgebracht, um die Ursache der Störung einfach aus dem Weg zu räumen. Noch ein letztes Mal sah der wunderbare Apfel zu dem Baum herüber, von dem er stammte, dann fiel eine Handvoll Erde auf ihn und schließlich wurde es dunkel und still.

***

Vor einigen Tagen war ich wieder einmal in jener Gegend. Ich war nicht wenig überrascht, als ich an der Stelle, wo der prächtige Baum gestanden hatte, eine Garage fand, die einen allerdings nicht minder prächtigen PKW beherbergte. Die Frau, die den Wagen eben in die Garage gefahren hatte und die mir irgendwie sehr bekannt vorkam, erzählte mir, ein Blitz habe den Baum gefällt, den ich suchte. Aber dann hellte sich ihr Gesicht auf und sie wies auf den Nachbargarten, zu dem ich neuerlich überrascht immer wieder hinüber schielte.

Wenige Meter vom Zaun entfernt, auf einer sehr gepflegten Rasenfläche, stand dort ein gewaltiger Apfelbaum. Wenn er nicht dennoch deutlich jünger und damit kleiner gewesen wäre, hätte man annehmen können, der Baum, den ich in Erinnerung hatte, wäre ausgegraben und einen Steinwurf weiter wieder eingepflanzt worden.

Das Seltsame aber war, dass dieser Baum, den ich jetzt erblickte, mir schelmisch und versöhnt zuzulächeln schien, als wollte er sagen: „Siehste!“

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5 Antworten zu Der Apfel

  1. Jessie sagt:

    Seufz.

    Ein wunder-wunder-wunderschönes Märchen …

    • Herr Koske sagt:

      Jetzt wird’s hell! (je ein Löffelchen Sarkas- und Zynis-Mus, bitte nach der Mahlzeit!)

      Du meinst das ernst??? – Danke! (ohne Ironie und dergleichen Edel-Sperenzchen)

      Ich versuche, mich kurz zu fassen („Tosendes Gelächter“), indem ich erwähne, dass dies die eine Story ist, die ich in meinen ganz kurzen und knappen Ausführungen im Blog höchstens 30 Mal erwähnt habe; offenbar habe ich Phantasie, denn hier habe ich gesponnen, phantasiert, „gelogen“ im Sinne von „gedichtet“; einmal bei meinen Bemühungen um das Schrift Stellen seit ca. 1978, zefix!

      Wo ist das „normaler Weise“, wenn ich in die Tasten dresche? Welchen Kontext, welche Rahmenbedingungen brauche ich, um diesen Knackpunkt zu knacken oder wie auch immer?

      Das sind für mich die wesentlichen Fragen, nicht Einkommen oder Wohnungseinrichtung usw., und das scheint, milde formuliert, schwer zu vermitteln, oh schöner Schmerz von edler Tiefe.

      Hier sind diese Fragen allerdings eher als rhetorische Fragen gedacht; nicht, dass Du Dir darüber auch noch ’ne Rübe machst (um immer einmal wieder volkstümliche Ausdrucksweise vorzutäuschen); ich fürchte, Du wirst es ohnehin tun; sorry, furchtbar, der Ossi-Kossi.

      Möge das Große Energiefeld mit Dir sein!

      (Gerührt ab. Abhang Vorhang)

      PS: Ich hatte völlig vergessen, dass ich hier ’n Kommentar-Formular angehängt hatte; nichts geht verloren, schon wieder Irokasmus, aber immerhin bemerke ich es.

      • Herr Koske sagt:

        PPS: Außerdem, denn ich soll ja üben, das Positive zu sehen, *hüstel*, konnte ich bei dieser Gelegenheit gleich die „üblichen“ Fehler ausmerzen, die ich seit Jahrzehnten mache, als Beispiel: „an dem abenteuerlichem Geschehen“ anstatt „an dem abenteuerlichen Geschehen“… ja, das dinosäuerliche Fossil ist auch nur ein Mensch, ach ach…

        (… „Herr Koske, Sie reden zuviel!“…)

        • Jessie sagt:

          Sehr löblich. Kann mich erinnern, mich zu Beginn unserer „Bekanntschaft“ darüber mit dir ausgetauscht und es irgendwann als besondere Note abgehakt zu haben. Dass du es nun doch angegangen bist, an dem abenteuerlichen Fallbeispiel zu arbeiten, zeugt von Großmut deinerseits – oder war es eventuell eine Bedingung des Verlags, damit das Lektorat nicht aus schierer Verzweiflung das Handtuch wirft?

          Wie auch immer. Fehlt nur noch der Hinweis, wo im Bloghäuschen eigentlich eine Rezension abgesetzt werden dürfte, falls es denn dann soweit sein sollte, und ich frage eh nicht nur für mich, sondern für die begeisterten Massen ganz allgemein. 🙂

          • Herr Koske sagt:

            Aha. – Das mit dem „Lektorat“ habe ich jetzt nicht verstanden, düdümm düdümm.

            An das mit der „besonderen Note“ kann ich mich auch nicht erinnern, aber ich bin halt, O-Ton vox populi, ein „bindungsloser Psychopath“, oh schöner Schmerz von edler Tiefe…

            (… jetzt will er wieder virtuelle Streicheleinheiten; furchtbar, die Typen…)

            Dennoch, und erst recht, danke für die Hineinsehung, Lesung und Kommentarpostung!

            Mit ausgezeichneter Zerknirschung

            Herr Koske

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