Wieder einmal hatte K.’s unmittelbar vorgesetzter Vorfahre seinen Bücherbestand umgruppiert, dieses Mal aber dergestalt, dass er etwa ein Dutzend Bücher in die ein Drittel des Kinderzimmers ausfüllende Schrankwand sortiert hat. Diese Umlagerung ist ohne Kommentar erfolgt, aber dabei hatte der Mann wieder diesen Gesichtsausdruck, der K. immer hat aufmerken und in etwa denken lassen: ‚Jetzt kommt wieder was Wichtiges; ich muss aufpassen, sonst gibt es was hinter die Löffel!‘
Eines dieser Bücher war „Dramen, Märchen, Aufsätze“ von Alexander Puschkin, und natürlich hat K. darin gelesen. Diese Lektüre jedoch war ein Schlüsselerlebnis in der langen Literatour des K., mit der er die zu seinem eigenen Erstaunen auch noch als abgehängter Unterschichtler vorhandene Sehnsucht nach geistiger Nahrung zu befriedigen suchte und sucht.
Zu seiner Freude, ohne Ironie usw. gesagt, hat K. festgestellt, dass dieses Buch auch heute noch in der ihm bekannten Ausgabe preiswert, *hüstel*, am Markt ist, weswegen es K. ganz demnächst erwerben wird, aber das ganz am Rande.
In dem Band befand sich auch ein Briefwechsel, der, wenn sich K. recht entsinnt, was zumindest hin und wieder der Fall zu sein scheint, zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen geführt worden war, und bei der Lektüre dieses Briefwechsels hat K. Formulierungen gefunden, die ihn beinahe bis zur Ekstase entzückt haben.
Das ist nicht übertrieben, denn bei seiner stundenlangen Lektüre auf seinem Hocker in der Ecke hinter der Schrankwand hat K. oft einen Bewegungssturm produziert, der an völlig in die Musik aufgehende Besucher eines Hardrock-Events erinnert haben dürfte, was K. nicht bewusst war, von außen aber merkwürdig gewirkt haben muss. Man hatte es nicht leicht mit einem Schizo in der Familie oder dem, was man für Familie zu halten gezwungen schien.
Einer der beiden Briefe wechselnden großen Geister äußerte beispielsweise, sinngemäß, man hätte sich auf entlegene Inseln des Diskurses begeben und er gestatte sich, nun wieder aufs Festland zurückzukehren.
K. war völlig aus dem Häuschen und hatte an dieser Stelle das derart klare Empfinden, dass er es nach Aufforderung hätte verbalisieren können, es gäbe einen virtuellen Raum, in den er sich zurückziehen konnte nicht nur dann, wenn das, was er als Alltag zu akzeptieren hatte, besonders unverständlich oder gar bedrohlich wirkte. Natürlich erfolgte eine solche Aufforderung nie, aber man kann nicht alles haben, ja ja.
Dann hat K. Puschkins Erzählungen gefunden, und damit, was ihm auch selbst bewusst war, Musterbeispiele dessen, was Autoren wie Tschechow oder Jack London für Prosa forderten; Kürze, Knappheit, Präzision, das Erzeugen von lebendigen Bildern vor dem geistigen Auge des Lesers usw. K. hat, was jedermann überraschen muss, damals schon zum Mäandern und Kaskadieren beim Gruppieren von Wortgruppen geneigt und dergleichen für Mannhafte Ausdrucksweise gehalten, während Leser seiner Niederschriften bzw. Niedertippen, wenn es Leser überhaupt gab, rechtschaffen verwirrt schienen.
Die Lektüre der Novelle „Der Schuss“ aber war eine der stärksten Leseerlebnisse in der tragikomischen Zeit von K.’s körperlicher Pubertät. Wenn K. sich recht entsinnt, hat er sogar mehrere Verfilmungen der Geschichte gesehen.
Ein Meisterschütze, vom Erzähler sozusagen als Nick Silvio genannt, spart sich seinen mit Sicherheit tödlichen Schuss während eines Duells auf, weil sein Gegner, während die Pistole auf ihn gerichtet ist, nicht nur als Attitüde mit sichtlichem Genuss Kirschen isst, sondern tatsächlich völlig ungerührt auf diesen Schuss wartet. Erst etliche Jahre später fordert Silvio sein Recht auf den noch ausstehenden Schuss ein, als der Kirschenesser einen eigenen Hausstand hat und vor allem eine geliebte Frau. Silvio schießt jedoch absichtsvoll daneben, weil ihm Genugtuung in der Weise zuteil wurde, dass sein Gegenüber emotional erreichbar war.
Diese Geschichte geht nun in K. um, wiedebumm, sorry, „Kleiner Scherz zur Auflockerung!“ nach Lt. Col. Sanftleben, was auch die Tatsache zeigt, der sich K. jedoch ebenfalls durchaus bewusst ist, dass er das Thema schon mal hatte in einer seiner abgerissenen rückgebauten Bloghäuschen. – Allein, man wiederholt sich im Alter, wie K. wiederholt angemerkt hat.
Korrekt, *hüstel*…
Puschkin hat diesen, aua, Volltreffer, K. wird nie Diplom-Autor, 1831 veröffentlicht und damit jedoch eine geistige Situation, ein typisches Wahrnehmungsmuster usw. beschrieben, die völlig unabhängig vom insbesondere materiellen Kontext hoch aktuell scheinen…
***
Was wollte uns der verhinderte Dichter K. nun damit sagen?
1. Er ist in dem Maße ein verkanntes Genie, dass man ihn frühestens 2173 wird verstehen können; die Hinzuziehung der Gemeindeschwester scheint auch hier keineswegs vonnöten.
2. K. hat überhaupt etwas geschrieben, und so was zu tun, tut man denn so was, das macht man doch nicht als anständiges Mädchen, ist jedenfalls besser als nichts Tun.
3. K. vermag seine Neigung zu russischen Frollein auch heute nicht zu leugnen.
4. Er will nich‘ arbeiten, weil er Abitur hat, und nein, das „kam“ nicht jetzt, aber schon des Öfteren…
5. Opa ist überhaupt nicht mehr realitätsdienstfähig und muss ins Heim. – Nee, er zieht in‘ ’ne Wohnung, ha; wenn nicht noch was dazwischen kommt, was K., was jedermann überraschen dürfte, ständig befürchtet, aber dergleichen ist ich-synton und nicht behandelbar. Ein kleiner Schritt in die Normalität, was immer das sein mag, und da er erst am 05.06. erfolgt, wird sich K. bis dahin noch… – nee, Tonio-Kröger-Syndrom; was ausgesprochen ist, ist erledigt. Alles geheim!
6. K. würde gern sagen, es gäbe nicht nur Putins, sondern auch Puschkins in diesem recht geräumigen Land, aber erstens lassen die ihn dann gar nicht mehr rein und K. will ja wenigstens noch nach Kaliningrad, bevor er in die ewige Schreibstube abberufen wird, und zweitens würde Putin, Achtung DDR-Witz, mit Sicherheit erklären, er würde Puschkin verehren, und dabei, und das ist echt voll krass dialektisch, Digga, nicht einmal lügen. Postmoderne schööööön!
6. Überhaupt.
7. Basta.
Na, wer jetzt nicht Lust auf Puschkin bekommt …
Ich mag ihn auch. Mindestens seit meinem Studium der russischen Sprache, und ich erinnere mich fast ein wenig verschämt daran, mich ursprünglich wenig hingezogen zu Literatur gefühlt zu haben, die auf einer Pflichtliste stand. Umso verblüffter war ich dann manchmal, wenn mir das Gelesene Genuss bereitete. Damals hätte ich dich gebraucht, ha! Wer weiß, in welch geistige Höhen mich der Austausch mit dir katapultiert hätte, und womöglich noch ganz ohne Schikanierereien …
… das ist wieder der Hammer, aber echt… ich habe gedacht, kein Joke, was soll das… so völlig ohne Zusammenhang fängt der mit Puschkin an… geht doch nicht…
Das ist ja das Problem (äh, danke für die Blumen; geht doch, Herr K.); „dergleichen“ ist ja immer außerhalb des „Behandelns“ und „Durchnehmens“ von „Stoff“ in der Schule passiert, und das, obwohl ich schon wahnsinniges und unverdientes Glück mit Lehrkörperteilen hatte; wie muss es da erst Leuten gegangen sein, die ’n Kilo Buch nicht leiden konnten.
Mir fällt so was jetzt „nur“ gehäuft ein (oder wie man da sagt), weil ich mit diesem doofen Buch einfach nicht fertig werde; ich habe das ja nochmal umgeschrieben…
(… so weit wieder das Werkstattgespräch des Schriftstellers, *hüstel*…)