K. hat die Wohnungstür aufgeschlossen und den Klienten in einer Blutlache auf dem Boden sitzend angetroffen, womit die Prüfung bereits beim ersten Einsatz zu bestehen war, den K. als Altenpflegehelfer allein zu bewältigen hatte.
Die Pflegedienstleiterin hatte K. buchstäblich zwischen Tür und Angel abgefangen und erklärt, dass einige Kollegen krank wären und sie hiermit anordnen würde, dass K. in der Lage wäre, den Einsatz bei diesem Klienten allein zu bewältigen. Da diese Aufforderung drei Monate vor Ablauf des Zeitraums erfolgt ist, in dem man als ungelernter Anfänger mit einem erfahrenen Pfleger mitgehen musste, kann als erwiesen gelten, dass K. sich nicht derart ungeschickt angestellt haben dürfte, wie er mit manchen Leuten seltsam erscheinender Selbstverständlichkeit befürchtet hatte.
Ohnehin war diese Chefin, „eigentlich nur“ ausgebildete Krankenschwester, eine Koryphäe, von der einige sagten, sie hätte mehr drauf als mancher Arzt. Zwar wird K. nicht müde zu klagen, dass er keine Phantasie hätte, aber bei dieser Frau hatte er immer wieder die Phantasie, dass sie in die vorderen Linien kriechen und Verwundete abschleppen würde. Diese Wachphantasie sagt allerdings nicht nur etwas über die Qualitäten dieser Leiterin, sondern auch sehr viel über die mindestens merkwürdige Innenwelt des in gewissem Maße in sozusagen uniformiertem Milieu sozialisierten K.
Der Klient hat übrigens gelächelt; er hatte trotz des daumenlangen Risses in der Kopfhaut kaum Schmerzen, was womöglich auch auf seine unter anderem von K. zu begleitende und zu dokumentierende Medikation zurückzuführen war. K. hat im Weiteren alles richtig gemacht, wie ihm von mehreren erfahrenen Fachleuten bestätigt wurde, die des Lobes voll waren.
‚Wenn die wüssten!‘, hat K. gedacht. ‚So was hatte ich doch schon mehrfach! Jedes Mal war man überzeugt, ich wäre nun ausgerechnet für diese Werktätigkeit geeignet usw. Chronische Chamäleonose (morbus zelig)!‘ *
K. wiederholt sich, wie er wiederholt angemerkt hat, immerhin, denn noch nimmt er es wahr, aber darum geht es ihm in diesen wenigen Worten zu diesem unseren Sonntag gar nicht.
Auch ist das wieder eine dieser Geschichten, bei denen Ottilie Normalverbraucherin gern abwinkt und sinngemäß anmerkt, das wären wieder tolle Räuberpistolen des Münchhausen K.; Ottilien mit akademischen Hintergrund streuen wie beiläufig die Wendung „Pseudologia phantastica“ ein.
Tja, die Geschichte ist jedoch authentisch… – Was solls; Gott ist tot, es lebe die Göttin!
Worum geht es? Hat K. ein Thema? – Nun, dieser Klient hat K. nicht nur wegen dieses Unfalls erschreckt, der ohnehin keine größeren Folgen hatte, vielmehr die Besatzung des Krankenwagens den alten Herrn schon kannte, weil der schon des Öfteren gestürzt war und dann Platzwunden vernäht werden mussten.
K. hat durchaus wahrgenommen, wie vorteilhaft es war, dass die Senioren trotz Pflegebedürftigkeit unterschiedlicher Ausprägung in ihren Wohnungen verbleiben konnten. Dennoch war dieser Klient für K. ein extremer Fall, und dies nicht etwa des Pflegeaufwands wegen; was das betrifft, hat K. noch ganz andere Geschichten erlebt.
Der alte Mann hatte keine Kontakte außer denen zu Pflegekräften, zumal während seiner Berufstätigkeit als Fernfahrer alle Kontakte zu Familienangehörigen verloren gegangen waren, wie er selbst einmal angedeutet hatte. Er hatte auch keinerlei Interessen, keine Hobbys usw., es waren keine Bücher in der Wohnung und kein Fernseher. Der Mann hat den Tag verbracht, indem er auf den nächsten Pfleger gewartet oder geschlafen hat.
K. ist sich immer noch nicht sicher, ob es angemessen war, einen Menschen mit der Zweitdiagnose „Depression“ in die Altenpflege zu stecken, was nämlich die Idee einer Sozpäd gewesen war.
Folgerichtig hat K. trotz des vermeintlich großartigen Einstiegs auch in diesen Job auch diesen Job geschmissen, und diesen konkret, als es mit seiner damaligen Freundin auseinander gegangen ist. K. vermochte Gedanken nicht mehr zu bezwingen wie etwa den, was das Ganze solle, wenn das Ende so aussehen würde, und ob er immer so angemessen zu reagieren in der Lage wäre, wenn die nächsten Prüfungen kämen.
Paradox scheint hier, dass K. nicht nur noch was Anderes erlebt hat, sondern geradezu einen Fall am gewissermaßen anderen Ende des Spektrums. Ein weiterer Klient, den unter anderem K. zu betreuen hatte und der weit älter war als der verunfallte, war über seinen Schlaganfall derart wütend, dass er angefangen hatte, von sich aus über den ganzen Tag verteilte Übungen mit Gummiringen, Expandern und dergleichen auszuführen, die bald erste Erfolge zeigten.
Die ihn ebenfalls betreuende Physiotherapeutin war völlig aus dem Häuschen und hat gewitzelt, dass sie bei dem Mann Gehalt für nichts bekommen würde. Nach einigen Wochen konnte K. diesen Klienten bei ersten Spaziergängen zum Beispiel ins Café begleiten und musste sich immer ein paar Takte anhören, wenn er seinen Kaffee und seinen Kuchen selbst bezahlen wollte.
Dieser Klient hatte mehrere Zimmer buchstäblich mit Büchern verkleidet, hatte zwei Schriftarten entwickelt, kannte Gott und die Welt unter Schriftstellern und Künstlern und war am meisten stinkig, weil er die Arbeit an seinen Memoiren für einige Wochen unterbrechen musste. Einige Geschichten daraus hat er K. erzählt; zum Beispiel die von seinen Kinderspielen an der Isarkante unterhalb des Hauses der Familie Thomas Mann. Das war nicht nur für K. noch einmal etwas ganz Anderes als das Lesen von Episoden über diese Hochburg der Literatur in Büchern dem Leser nicht persönlich bekannter Autoren.
Worum geht es? Möchte K. versuchen, auf den Punkt zu kommen?
Nun, er war nicht das einzige Symptombündel, das sich über beinahe bis zu Textbausteinen erstarrte Rückmeldungen von Mitgliedern des Freudeskreises Anna Lyse lustig gemacht hat, und eine dieser Rückmeldungen betraf eine geistige Ebene.
Darum geht es, und das wurde auf den letzten Strecken dieser Lebenswege besonders deutlich; ist es mir gelungen, eine solche geistige Ebene zu etablieren oder bin ich im Grunde ein sprachbegabtes Säugetier geblieben?
Nein, das ist nicht arrogant oder zynisch, das scheint eine der Grundfragen des Lebens überhaupt…
So weit wieder das Wort zum Sonntag aus der Unterschicht; nun schon zur Tradition geworden als Klugschiss to go, yeah!
* Dieses Verhalten eines Chamäleons in allen Lebensbereichen, genial inszeniert und dargestellt von Mr. Konigsberg, ist übrigens eine der, sorry bzw. *hüstel*, Kernkompetenzen des Borderliners, unabhängig von dramatischen Details wie Schnippeln. Das kommt immer einmal wieder per Mentalfunk, dass K. sich einbilden würde, er wäre ’n Borderliner, dabei wäre er stinknormal bzw. überhaupt und insgesamt schwul und weiß die liebe Göttin was nicht noch alles. Zudem dürfte, wenn K., Zitat Mentalfunkspruch, ‚Dauerpatient‘ war, etwas passiert sein auch dann, wenn K. da nur drin gesessen hätte, was übrigens fast unmöglich ist. Selbst bei Leuten, die bei Teamis und Mitklienten als weggetreten galten, hat sich oft nach Jahren erstaunlicherweise gezeigt, dass sie sehr wohl und sehr gut was mitgekriegt hatten. Schließlich hat nicht K. diese Diagnose gestellt, sondern ein mehrfach universitätlich diplomiertes Mitglied des Freudeskreises Anna Lyse, damals einschlägige Klienten veroberarztend. Allerdings hat ein Chefarzt die Diagnose „schizotype Persönlichkeitsstörung“ ins Gespräch bzw. amtlich Geschreib gebracht, aber das kennt man; geh‘ zu fünf Ärzten und Du hast sieben Krankheiten bzw. Normvarianten. Bla.
(... ich finde es zuweilen erstaunlich, dass überhaupt jemand auf mein Geblödel eingeht... aber ich muss textieren, sonst geht es…