Anfang Nr. x+1

Übrigens in der ersten Fassung 1111 Wörter – das is‘ ’n Zeichen, *hüstel*… – Wie viele Anfänge habe ich in den letzten Jahrzehnten zelebriert? Bestimmt 50 oder so. Eine seltsame persönlichkeitsspezifische Art von Schreibblock fürwahr! Ich bin halt was Besonderes, nochmals *hüstel*. Im Übrigen gilt auch hier wieder, dass erste Entwürfe immer scheiße wären, in Klammern Hemingway. – Der Kerl hat Katzen erschossen, der gehört geteert und gefedert, aber das am Rande und weil SM gerade in ist.

Auch habe ich wieder die sinngemäße Anmerkung Jack Londons im Hinterkopf, die er gegenüber einem jungem Autoren machte, dieser möge doch aufhören zu lamentieren und starke Bilder vor das geistige Auge des Lesers stellen. Hat er Recht! Aber – besser das als gar nix, zefix! Am Samstag habe ich einen weiteren Textblock erstellt, aber der ist noch lamentöser. Gestern habe ich gar nicht geschrieben und das ist nicht gut, aber mühsam nährt sich das Eichhörnchen usw., bla.

In diesem Sinne – per asperger ad asterix!

***

Irgendwann mit etwa zwölf Jahren beschloss Thomas Landen, nicht mehr mitzuspielen. Er begann damit, dass er am sonntäglichem Frühstückstisch der Familie Anzeichen der Erheiterung verweigerte, wenn die Eltern Witze machten, insbesondere der Vater, was ohnehin selten geschah und etwas gequält Zeremonielles hatte. Oder eben einen „Witz“ – es kam seit vielen Jahren immer derselbe Text. „Ich bin als Kind mit Eselsmilch groß geworden!“ Pause, dann der Hinweis, dass es sich um eine Weißweinsorte gehandelt hätte. Sehr witzig, in der Tat! Außer Thomas schien es niemandem aufzufallen, dass der Vater immer dasselbe erzählte.

Natürlich hatte diese Verweigerung etwas Bockiges und etwas Pubertäres, das wurde Thomas jedoch auch erst sehr viel später klar. Dann war er sogar froh darüber, weil das bedeutete, dass er doch zumindest in Ansätzen etwas wie Jugendlichkeit besessen haben musste und nicht als chronisch ermüdetes Väterchen Frust bereits auf die Welt gekommen war. Thomas schien jedoch, dass er genau angeben könnte, welches Erlebnis diese Verweigerungshaltung initiiert hatte.

Etliche Jahre später las er im Bestseller eines bekannten Therapeuten, dieser hätte zu seiner Überraschung bei vielen Klienten festgestellt, dass sie angeben konnten, wann in ihrem Leben sie dicht gemacht hatten, sich emotional eingekapselt, um nicht mehr verletzt werden zu können oder grundsätzlich nicht mehr erlebbar zu werden. Damit hätten sie eine Seelenruhe erreicht, die eigentlich Friedhofsruhe wäre, weswegen, unter anderem, sie zum Beispiel Drogen nehmen mussten, um sich lebendig fühlen zu dürfen.

Das verstand Thomas sehr gut, weil er dieses auslösende Erlebnis in seinem Leben glaubte ermittelt zu haben. Ihm war allerdings nicht klar und er dachte auch nicht weiter darüber nach, ob er dafür gelobt werden wollte. Er dachte des Weiteren oder vor allem nicht darüber nach, was es zu bedeuten haben könnte, dass er im realen Sozialismus denselben seelischen Mechanismen zu unterliegen schien wie Menschen unter ungleich härteren Bedingungen in einer völlig anderen Lebenswelt.

Das Nachdenken über diesen Sachverhalt hätte zu der Frage führen können, ob vielleicht materielle Rahmenbedingungen keineswegs den Stellenwert besaßen, der ihnen selbstverständlich zugesprochen wurde, vielmehr diese psychischen Abläufe Weltanschauungen im Wortsinn weitaus mehr prägten. Diese Frage ging aber erst Jahrzehnte später in Thomas um und er fragte sich dann auch, ob es überhaupt möglich sein könnte, im höherem Alter durch Reflexion und vor allem Selbstreflexion erworbene Einsichten mit jugendlichem Handeln zu verbinden. Natürlich verneinte er diese Frage dann.

Es war am Vorabend eines Kindertages, als in der Straße, die im rechtem Winkel zu seinem Wohnblock verlief, ein Lampionumzug stattfand. Hunderte Kinder zogen mit ihren Eltern im langsamen Marsch diese Straße entlang, und alle Kinder trugen an Holz- und Metallstäben Lampions in dutzenden Variationen vor sich her, deren Kerzenlicht in der beginnenden Abenddämmerung warm leuchtete.

Es war ein freundliches und friedliches Bild, das sich dem Betrachter bot, und wieder einmal, wie fast immer und überall, war Thomas nur Betrachter und nicht Beteiligter. Er saß hinter dem geschlossenem Fenster des Kinderzimmers und bemühte sich, nicht auf die Tränendrüse zu drücken, wie der Vater zu sagen pflegte.

Thomas und sein Stiefbruder waren seit Wochen stolze Besitzer derartiger Lampions, wie sie dort unten durch die Dämmerung geradezu schwammen. Thomas‘ Lampion war eine papierene Sonne von etwa dreißig Zentimeter Durchmesser und sein Bruder besaß einen Mond als Lampion von der gleichen Größe. Ebenfalls seit Wochen hatten sich Thomas und sein Bruder auf dieses Ereignis gefreut und waren nun nicht dabei, weil die Eltern im letztem Moment ihre Teilnahme abgesagt hatten, da sie einen wichtigen Termin wahrnehmen mussten oder dies zumindest vorgaben.

Thomas wusste zu diesem Zeitpunkt nichts von der Existenz eines sogenannten Unbewussten, aber viele Jahre später wurde ihm klar, dass seine Reaktion auf dieses Erlebnis umso heftiger und nachhaltiger war, als sie völlig unbewusst blieb. Hätte er im Moment des Geschehens Worte für das Geschehen gehabt und hätte er im mehrfachem Sinne einen Raum gesehen, in dem es möglich gewesen wäre, diese Worte auszusprechen, hätte er sagen müssen, dass das Maß jetzt voll gewesen wäre und der berühmte letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen hatte bringen müssen.

Es schien keinen Sinn zu haben, sich auf etwas zu freuen, insbesondere auf Aktionen mit Gleichaltrigen. Diese Freude schien geradezu reflektorisch Einschränkung, Drohung, Bestrafung und grundsätzlich Frustration zu bewirken. Das hatte Thomas nicht nur dieses eine Mal erleben müssen, das allerdings besonders schmerzhaft war, sondern Dutzende, ja, vermutlich über hunderte Male in den letzten Jahren.

‚Nun gut!‘, so hätten die Gedanken etwa lauten können, die Thomas nicht zu äußern vermochte und auch nicht hätte äußern wollen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. ‚Dann werde ich eben den Spieß umdrehen und gewissermaßen noch Eins drauf legen, wie es so schön oder vielmehr unschön heißt. Dann werdet Ihr ja sehen, was Ihr davon habt! Ich werde mich um meine Beteiligung an solchen Erlebnissen gar nicht mehr bemühen, ich werde jede Gelegenheit nutzen, möglichen oder erfahrungsgemäß leider sehr wahrscheinlichen Verboten zuvorzukommen, indem ich sie mir selbst auferlege!‘

Mit der Mimik und Gestik, mit der er in Gruppensitzungen wichtige Rückmeldungen zu begleiten pflegte, würde Thomas‘ Therapeut zehn Jahre später anmerken, dass manche Leute ihr Leben lang damit beschäftigt wären, ihre Eltern zu bestrafen. Thomas würde kein Wort verstehen, sich aber immer wieder fragen, warum sein Gehirn gewissermaßen hinter seinem Rücken genau diese von ihm unverstandenen Rückmeldungen besonders sicher zu speichern schien. Er pflegte diese Wahrnehmung immer wieder mit einer der bemüht witzigen Anmerkungen zu kommentieren, die man ihm immer wieder als selbstdestruktiv auszureden versuchte, indem er erklärte, man käme fast in Versuchung anzunehmen, dass es ein Unbewusstes gäbe.

Mit diesem unbewusstem und daher umso wirksameren Entschluss, nicht mehr mitspielen zu wollen, hatte Thomas jedoch gewissermaßen den Plot für sein Lebensdrehbuch geschrieben und dies, ohne wahrhaben zu können und zu wollen, dass er zwar im Grunde die Eltern bestrafen wollte, sich aber selbst bestraft und sein Scheitern vorprogrammiert hatte.

Seltsamerweise oder vielleicht, wie der Genosse gesagt hätte, dialektischer Weise, hatte Thomas eine erste Ahnung von diesem Zusammenhang, die bereits mit leisem, aber deutlichem Grauen verbunden war, als er, bezeichnender, weil typisch tragikomischer Weise wenige Wochen vor der Wende, eher lahm und halbherzig einen Ausreiseantrag stellte.

Der Genosse Tschekist ließ Thomas‘ besonders in solchen Situationen der Begegnung mit Autoritäten üblichen Wortschwall völlig ungerührt an sich abperlen, um dann demonstrativ das von ihm begonnene Protokoll zu zerreißen und zu versichern, dass er, Thomas, quasi gar nicht da gewesen wäre, wenn er im Anschluss an dieses Gespräch sich im Amt gegenüber einen Arbeitsvertrag organisieren würde. Thomas geriet in den seltenen Zustand einer Art sprachloser Ruhe und verließ den Raum mit dem Gebaren eines einen Befehl geradezu freudig ausführen Wollenden.

Dann hatte der Genosse Major noch gesagt, dass Thomas mit Sicherheit irgendwann einen Verantwortlichen suchen würde. Mit Sicherheit, har har! Aber wieder hatte Thomas kein Wort verstanden und wieder wurde ihm erst viele Jahre später klar, was der Mann hatte sagen wollen.

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