Die Vox populi ermöglicht Ost-Koske bessere Selbstwahrnehmung

Wie häufig am Samstag bin ich gestern mit einer großen Tasche über der Schulter auf dem Weg zum Wasch-Salon. Das scheint auch deshalb zu passen, weil sich in lange nicht erlebter Deutlichkeit zeigt, dass ich salondebil bin.

Ich bin sogar ein bisschen beschwingt, weil wahrscheinlich etwas tun, egal, was, immer besser ist als nichts tun. Kurz vor dem Wasch-Salon beginnt ein Hund geradezu rasend zu bellen und zu kläffen, als ich aus dem Schatten des parkartig, beinahe urwaldartig überwucherten Hangs trete, auf dem ich wenigstens im übertragenem Sinne aufsteige. Der Besitzer kann das Tier nur mit Mühe davon abhalten, sich auf mich zu stürzen. Ich grinse konsterniert und merke sofort, dass das wieder das Grinsen ist, bei dem ich nicht ratlos bis verwirrt wirke, sondern überheblich und verächtlich. Aber es ist schon zu spät. Übrigens fällt mir ein, dass ich auch dieses Grinsen von meinem unmittelbar vorgesetztem Vorfahren übernommen habe. Hatta von seina Mutta, hatta von seina Mutta! Bei ihm drückte es etwas aus wie: „Mach mal was, damit ich re-agieren kann, denn ich weiß nicht, wie ich agieren soll!“

Ich grinse einen der beiden Männer sogar an, um zu zeigen, dass ich nicht sauer bin auf den Hund usw. Der Typ ist ein Schrank, ein Stück größer als ich und mit Körpermasse aus Muskeln, nicht aus Fett.

Der Hundebesitzer aber schreit den Hund derart laut an, dass er nicht nur das in verzweifelter Wut lärmende Tier übertönt, sondern auch noch in einigen Dutzend Metern Entfernung deutlich zu verstehen ist: „Du sollst nicht immer aggressive Leute angehen!“

Hier wirkt wieder dieser Effekt des nicht im Hier und Jetzt anwesend Seins. Im Jiddischen gibt es das Wort „Trepverter“. Treppwörter, die Einem erst hinterher einfallen, wenn die Situation vorbei ist, quasi auf der Treppe. Ja ja, ich bin Antisemit. Ich glaube nicht, dass ich gehört habe, was ich gehört habe, und als ich einsehen muss, dass ich richtig gehört habe, ist die Situation vorbei und ich bin einige Dutzend Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Jetzt bin ich aggressiv, bzw. jetzt nehme ich meine destruktive Aggression wahr. Wachphantasien des Inhalts steigen in mir auf, dem Hundebesitzer ein paar Takte zu erzählen. Eben deshalb haben die, die Budenzauberer, den Schrank von Mann neben den Hunde-gerade-noch-so-Festhalter positioniert, damit ich mich nicht im übertragenem oder gar wörtlichem Sinn auf den stürze. – Ja ja, Schizo…

Wir wollen Ihnen doch nur helfen, junger Mann… Deswegen „salondebil“. Meine sozusagen klassische Intelligenz nützt mir überhaupt nichts, weil meine emotionale Intelligenz unter allem weiblichem Hausschwein ist. Ich scheine in der Öffentlichkeit oft nicht zu realisieren, welche Gefühle ich entwickle und vor allem ausstrahle, was nicht dasselbe ist.

Einige Wochen zuvor ist mir schon einmal etwas Ähnliches passiert. Ich sitze in einem Bus auf dem Sprung, weil der Fahrer an der Haltestelle heftig rangieren muss, da die Straße zugeparkt ist mit PKWs. Plötzlich dreht sich einer der beiden vor mir stehenden Männer zu mir um und murmelt und brabbelt eher, als dass er es spricht, der Fahrer würde gleich halten und es bestünde kein Grund zu explodieren. Sinngemäß, aber ich bin im seltenem Zustand der Sprachlosigkeit. Ich habe zwar bemerkt, dass ich irgendwie weg getreten bin, zumal ich Musik im Kopf habe, aber ich hätte eher die gewissermaßen standardisierte Rückmeldung erwartet, ich wäre full wie ’ne Radehacke. Nehme ich es tatsächlich nicht wahr, wenn ich auf Aggressionen drauf sitze und sie ausstrahle? Wir wollen Ihnen doch nur helfen, junger Mann

Das ist der Kern der „Symptomatik“. Wie kommen Leute dazu, Therapie in vivo zu machen durch sozusagen inszenierte Feedbacks? – Hier aber würde jeder Psychiater vom typisch psychotischem Empfinden des gemacht Seins von sogenannter Realität sprechen und milde genervt auf die Existenz hochwertiger atypischer Neuroleptika verweisen.* Ich bin mir jedoch sicher, nicht psychotisch zu reagieren und auch nicht, ich liebe es, den Simulanten zu spielen

Tja, das läuft jetzt seit 32 Jahren und das muss mir erst mal jemand nachmachen. Zudem scheint es, dass mich bereits nach draußen gehen triggert. Ich scheine nur in ghettoartig geschlossenen Lebenslagen halbwegs lebensfähig. Das hat jedoch nicht nur histrionische, sondern auch historische Hintergründe. Vor etwa 150 Jahren waren diese gewissermaßen geschlossenen Lebenswelten die Regel. Daher rührt meines Erachtens zumindest unter anderem der Erfolg von Erwin Strittmatters „Laden“-Trilogie. Darin wird eine solche Kleinwelt meisterhaft aufgehoben im doppeltem Sinn, einmal im Sinn von „Konservieren“ und dann im Sinn von „auf eine höhere Ebene heben“ durch künstlerische Darstellung.

Ansonsten das Übliche… Unüblich ist allerdings, dass ich jetzt schon zum drittem oder viertem Mal seit etwa einer Woche ohne Ohropax in oder Kopfhörer auf den Ohren schreibe, was ich seit vielen Jahren nicht gepackt habe. Was soll das? Es ist fast beunruhigend! Dennoch das Gemurmel und Geraune im Hintergrund, wie der Chor in der antiken griechischen Tragödie, der die Handlung zusammenfasst.

‚War nich beidastasi, war nich‘ mal Mitarbeiter!‘, ‚Hat die Wende verpennt!‘, ‚Er dichtet doch nich‘, er dichtet doch nich!‘, ‚… weilla Tagebuch führt‘, ‚Hatte jahrelang Zeit zum Schreiben!‘, ‚Was willa denn nu‘ noch?‘, ‚Wo willa ’n jetz‘ noch hin?‘ Und so weiter. Das Übliche, wie gesagt! Faszinierend ist immer wieder, dass die halluzinagogischen Rückmeldungen oft inhaltlich zutreffend sind, z. B. ‚Er dichtet doch nich‘!‘ oder ‚Hatte jahrelang Zeit zum Schreiben!‘

Die Vox populi ermöglicht dem therapieresistentem Klienten Ost-Koske durch ihre Feedbacks bessere Selbstwahrnehmung. Sie ist aber gewissermaßen leise gedreht. Ich habe irgendwann einmal gepostet, dass ich entsetzt gewesen wäre, ohne jede Ironie usw. gesagt, als ich beim Ansehen des Filmes „Das weiße Rauschen“ feststellen musste, dass der Held, dargestellt durch den grandiosen Mister Brühl, Stimmen derart laut hörte, als würden die „Sprecher“ neben ihm stehen. Ich erlebe „nur“ dieses Gebrabbel und Geraune im Hintergrund, oft gewissermaßen aufgepfropft auf tatsächliches Reden realer Personen, von denen ich rational weiß, dass sie gar nicht ständig über mich reden können, was mir aber auch nicht hilft.

Irgendwann werde ich belobigt für mein Durchhalten. – Denn an wen richte ich mich eigentlich mit diesem mich beschwerendem Petzen? Hoffe ich immer noch, dass jemand mir aus dem Budenzauber hilft? Süüüß…

Kurzum – bla.

* Der gräuliche Witz ist hier, dass diese Präparate nicht annähernd so viel Nebenwirkungen entwickeln wie die klassischen psychiatrischen Smarties, bis auf eine – das Zeug schwemmt geradezu auf. Das nächste Dilemma, denn ich versuche eben, Übergewicht und damit Hypertonie im Wortsinne abzuarbeiten. 15 Kilo sind schon runter, aber ich schleppe immer noch zu viel Fett mit mir herum. – Auch das Alter hält Herausforderungen für das postmoderne Individuum bereit, des seiest Du gewiss, herbe Dame Welt!

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